So etwas wie „demokratische Atomkraft“ gibt es nicht

Heute wird zunehmend ein irreführender Diskurs geführt: Die Atomkraft, eine vermeintlich „dekarbonisierte“ (kohlenstoffarme) Energie, könne das Klima retten. Diese irreführende Behauptung fällt in sich zusammen, sobald man diesen Industriezweig in seiner Gesamtheit etwas genauer betrachtet. Diese aktuelle Debatte sollte jedoch nicht über die anderen fundamentalen Gründe hinwegtäuschen, die gegen diese Technologie sprechen. Weil die Atomenergienutzung eng mit der Produktion der zerstörerischsten Waffen verbunden ist, die je erdacht wurden, weil sie Teil einer militärischen und kolonialen Ordnung ist und weil sie nicht die geringste Transparenz und Offenheit zulassen kann, steht sie an sich im Widerspruch zu einer demokratischen Gesellschaft.
(Artikel veröffentlicht in einem Dossier über Atomkraft in der Februar 2021 Ausgabe von „Nature et Progres“)

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Hier ist ein Satz, der nichts von seiner Aussagekraft verloren hat, seit er zum ersten Mal 1958 in einem WHO-Bericht geschrieben wurde. Darin heißt es: „Mit Blick auf die psychische Gesundheit sei die zufriedenstellendste Lösung für die Zukunft der friedlichen Nutzung der Atomenergie, eine neuen Generation heranwachsen zu sehen, die gelernt hat, mit dieser Ahnungslosigkeitund Ungewissheit zu leben.
Sechzig Jahre später scheint dieses seltsame Programm teilweise wahr geworden zu sein. Obwohl die Atomenergie die wichtigste Stromquelle in Frankreich ist (78 % des Energiemixes), denken nur wenige Menschen, dass sie in der Lage sind, ihre Funktionsweise und Strukturen verstehen und beurteilen zu können. Nur wenige Menschen sind besorgt über die gesundheitlichen Folgen der Atom-Anlagen, die es im Land gibt. Unfälle im Zusammenhang mit der Atomenergienutzung verursachen kein großes Aufsehen in der öffentlichen Meinung, wenn sie bekannt werden. Das liegt daran, dass die aufeinanderfolgenden Regierungen und ihre Industriepartner darauf bedacht waren, die Angelegenheit für die „breite Öffentlichkeit“ unverständlich zu machen und sie von der Öfentlichkeit fernzuhalten.
Die Geschichte der Durchsetzung der zivilen Atomenergie in Frankreich ist also die eines doppelten Sieges über die Demokratie: erstens den Menschen vorgegaukelt zu haben, dass eine Technologie so komplex sei, dass sie von Normalsterblichen sowieso nicht verstanden werden könne, und zweitens behauptet zu haben, dass deshalb die Zustimmung der Bevölkerung für ihre Nutzung vorausgesetzt werden kann.

Der Mythos der (scheinbar) unmöglichen Debatte

Doch was ist so besonders an einem Atomkraftwerk? Ist diese Technologie wirklich für Normalbürger*innen so schwer zu begreifen, dass sie nicht über die Gefahren und Auswirkungen nachdenken und diskutieren können?
In einem AKW wird eine Kettenreaktion erzeugt und gesteuert, bei der durch die Spaltung verschiedener Atomkerne erhebliche Energie freigesetzt wird. Diese Energie wird genutzt, um Wasser zu erhitzen, das sich in Dampf verwandelt, der dann eine Turbine zur Stromerzeugung antreibt.
Mit anderen Worten: Ein Atomkraftwerk ist eine gigantische Dampfmaschine. Das Problem ist, dass diese Kettenreaktion auch hochgefährliche radioaktive Spaltprodukte produziert und dass sie unter Kontrolle gehalten werden muss, um einen unkontrollierbare Explosion – einen Supergau ( siehe Tschernobyl und Fukushima) zu vermeiden. Und letztdendlich entstehen bei dieser Reaktion haufenweise hochgradig radioaktiv-strahlende Endabfälle, deren Entsorgung künftige Generationen über Jahrtausende hinweg belasten wird.

Auf diese Weise gestellt, erscheint die Frage nach einem Für oder Wider der Atomenergienutzung nicht so schwierig. Die Tragweite eines Atomstrom – Programms beschränkt sich nicht auf die Option einer Energietechnologie. Vielmehr ist sie eine Entscheidung der BürgerInnen und Bürger, weil das Leben aller davon betroffen ist. Jeder und jede sollte in diese Entscheidung miteinbezogen werden. So konnte die Frage an die Bevölkerung gestellt werden, als General de Gaulle nach dem Zweiten Weltkrieg die Atomenergiekommission (CEA) gründete oder während des Mesmer-Plans zum Bau von AKWs 1974. Das war zum Beispiel in Österreich der Fall, wo eine Volksabstimmung 1978 die atomaren Ambitionen des Landes beendete, obwohl gerade das erste AKW gebaut worden war.

Eine Gesellschaft der Kontrolle und Intransparenz

In Frankreich wurde die Entscheidung für die Atomenergie auf autoritäre Weise getroffen und hat damit eine Industrie geschaffen, die mit dieserer Intransparenz durchaus zufrieden ist. Aufgrund der enormen Risiken müssen AKWs ständig überwacht werden. Es ist wichtig, stabile Umgebungsbedingungen um diese Anlagen herum zu schaffen, absolut geschützt vor äußeren Gefahren. Abgesehen von ein paar „Tagen der offenen Tür“ sind die 18 Standorte, an denen sich die 56 französischen Reaktoren befinden, also allesamt No-Go-Zonen, die unter militärischer Aufsicht stehen. Wer sich diesen Anlagen nähert, unterliegt einer quasi automatischen Kontrolle durch die diensthabenden Gendarmen. Gleichzeitig ist es schwierig, wenn nicht sogar unmöglich, der technische Zustand der kerntechnischen Anlagen in Erfahrung zu bringen. Solche Informationen werden vom Betreiber nicht kommuniziert, sondern mühsam von Einzelpersonen oder Anti-Atomkraft-Initiativen ans Licht gebracht, auf Kosten endloser administrativer Rechtsmittel. Und selbst wenn sie gezwungen sind, interne Dokumente offenzulegen, zögern die EDF-Führungskräfte nicht, sie zu redigieren, indem sie ganze Seiten manuell schwärzen, bevor sie sie unleserlich an die Bürger*innen schicken, die sie angefordert hatten.

Auch jeder noch so kleine Widerspruch wird zum Schweigen gebracht. Und wenn die Millionen Euro, die mit Subventionen und Arbeitsplatzversprechen auf die Atomregionen niederprasseln, nicht ausreichen, um den Protest zu beruhigen, wird er gewaltsam niedergeschlagen. Als „Staatsräson“ stehen der Atomindustrie alle Instrumente zur Verfügung, um sich zu schützen. In den letzten Jahren wurden Anti-Atomkraft-Aktivist*innen registriert, durchsucht, strafrechtlich verfolgt und verurteilt, weil sie ihren Widerstand demonstrierten, insbesondere in Bure in der Maas-Region, wo geplant ist, die hoch- radioaktiven Abfälle 500 Meter tief zu vergraben.

Einige könnten jedoch einwenden, dass der Staat jetzt Räume für Diskussionen zur Verfügung stellt, um die Bevölkerung einzubeziehen: die lokalen Informationskomitees (CLI) oder die verschiedenen öffentlichen Debatten. Diese beiden Werkzeuge haben jedoch die gleichen Nachteile. Beide werden als Räume für Diskussion und Beratung dargestellt und suggerieren, dass Demokratie ausgeübt wird, während die Sorgen oder Ängste der Bürger durch die Worte wissenschaftlicher Experten der Betreiber beiseite gefegt werden. Das Gleiche gilt für alle gesetzlichen Bestimmungen, an die sich die Industrie zu halten hat. Es gibt unzählige Ausnahmeregelungen, fehlerhafte Ausschreibungen, geschönte Bürgerbefragungen und Verstöße gegen das Umweltrecht. Jedes Mal präsentiert sich die Atomindustrie in Frankreich über dem Gesetz, wie ein Staat im Staat.

De Gaulle beim Besuch des CEA (Kommissariat für Atomenergie) im Jahr 1967

Eine Gesellschaft der Kontrolle und Undurchsichtigkeit

Wenn die so genannte „zivile“ Atomkraftnutzung in die Kultur der Geheimhaltung eintaucht wie ein Fisch ins Wasser, dann deshalb, weil sie aus der militärischen Nutzung hervorgegangen ist und nie aufgehört hat, auf diese zurückzugreifen. Lange Zeit als zwei völlig unterschiedliche Dinge dargestellt, sind sie in Wirklichkeit zwei Seiten desselben Anspruchs.
Macron erkannte dies Ende 2020 mit beispielloser Offenheit an: „Ohne zivile Atomkraft gibt es keine militärische Atomkraft; ohne militärische Atomkraft gibt es keine zivile Atomkraft. Um zu überleben, ist die militärische Atomkraft auf den gesamten zivilen Sektor angewiesen. Vom Uranabbau bis zur Reaktortechnik, vom Transport radioaktiver Stoffe bis zur Abfallentsorgung, von der universitären Ausbildung bis zur wissenschaftlichen Forschung – diese Fähigkeiten werden für U-Boote, atomgetriebene Flugzeugträger und Sprengköpfe ebenso gebraucht wie für die Beleuchtung von Badezimmern. Das Militär muss all diese Grundlagen der Atomtechnologie nicht selbst organisieren und beaufsichtigen. Und es kann sein Atomwaffenarsenal zu geringeren Kosten aufrechterhalten. Dadurch behauptet Frankreich aufgrund seiner militärischen Atommacht immer noch seinen Platz unter den Entscheidungsnationen, in Europa und in der Welt.

Aber wenn die militärische Atomkraft die zivile Atomkraft braucht, dann gilt das auch umgekehrt. Das Beispiel der Nachbarländer Frankreichs ist in dieser Hinsicht recht aufschlussreich. In den letzten zehn Jahren haben sich Deutschland, Belgien und die Schweiz für den Ausstieg aus dem Atom als Mittel der Energiegewinnung entschieden.* Dies war unter anderem deshalb möglich, weil diese Länder keine Atomwaffen besitzen. Die Regierungen hatten also freie Hand bei der Entscheidung, ob sie einen Sektor weiterführen, der als gefährlich, finanziell aufwändig und nicht mehr zeitgemäß kritisiert wurde. Gleichzeitig beharrte Frankreich, dessen diplomatische Macht auf seiner atomaren Stärke und dem Export seines „Know-hows“ im Bereich der zivilen Atomenergienutzung beruht, auf der Herstellung und dem Verkauf einer neuen Generation von Reaktoren, den EPRs, deren einziges Wunder bisher darin bestand, dass sie es geschafft haben, mehr als 19 Milliarden Euro an öffentlichen Geldern auszugeben (in Flamanville das Sechsfache der ursprünglichen Kosten), ohne ein einziges Megawatt produziert zu haben.

Eine koloniale Angelegenheit

Die zivile Atomkraft hätte – so wird den Menschen suggeriert- den Vorteil, die Energieunabhängigkeit Frankreichs zu garantieren. Dabei wird unter anderem vergessen, dass die Grundlage dafür die Existenz von Uran ist, das zum größten Teil in Niger abgebaut wird. Seit den 1960er Jahren haben postkoloniale Abkommen Frankreich erlaubt, sehr vorteilhafte Schürfrechte in diesem Land zu erhalten, das zu den ärmsten der Welt gehört. Seine Armee hat dort ein Regime der Vasallität aufrechterhalten, indem sie Aufstände, Putschisten oder Kandidaten für Wahlen unterstützt hat. Weit weg von Paris und seinen Technokraten, die saubere, kohlenstoffarme Energie preisen, regiert Orano (ehemals Areva) in der nigerianischen Wüste über eine Stadt, die aus dem Nichts um seine beiden Uran-Minen herum entstanden ist. Für Frankreich das unverzichtbare Erz. Für die Menschen in Niger: schlechte Arbeitsbedingungen, radioaktive Verseuchung und Krebs. Wo immer sie eingesetzt wird, schreitet die Atomkraft mit Arroganz und Verachtung für die Menschen voran. Sie versteckt ihre militärischen Ambitionen hinter Energiekonzernen und kolonisiert Territorien, in Frankreich und im Ausland. Sie legt nur Wert auf das Wort von Experten und verhindert jede kollektive Beteiligung an der Entscheidungsfindung. Die ihr innewohnenden Gefahren erfordern eine Politik der Geheimhaltung, die eine sichere und zentralisierte Ordnung unterstützt. Von ihrem Wesen her ist die Atomkraft also das Gegenteil von demokratischen Idealen, Frieden und Gleichheit zwischen den Völkern.
Wenn BürgerInnen und Bürger es als ihre Entscheidung begreifen, die Auswirkungen auf ihr Leben und das kommender Generationen hat: Es ist es immer noch möglich, sich gegen Atomkraft zu engagieren!

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